Strom & Solar

Dynamische Stromtarife 2025

Der deutsche Strommarkt steht vor der größten Revolution seit der Liberalisierung. Jahrzehntelang galten starre Preise als das Maß aller Dinge: Ein Preis für jede Kilowattstunde, egal ob sie nachts bei Sturm (viel Windstrom) oder abends zur Tagesschau (Gaskraftwerke) verbraucht wurde. Dynamische Tarife brechen dieses System auf. Sie reichen die Volatilität der Strombörse EPEX Spot direkt an den Endkunden weiter. Das verspricht enorme Einsparungen für diejenigen, die ihren Verbrauch steuern können – und Risiken für jene, die es nicht tun. Dieser Artikel ist keine Werbebroschüre, sondern eine knallharte technische und ökonomische Analyse.

Interaktiver Rechner

Die Formel

Endpreis_Stunde = (Börsenpreis_EPEX + Beschaffungskosten) + (Netzentgelte + Steuern + Abgaben + Konzessionsabgabe) + Anbietergebühr

Warum ist das wichtig?

Die Energiewende ist volatil. Wind und Sonne schicken keine Rechnung, aber sie liefern auch nicht auf Knopfdruck. Um das Stromnetz zu stabilisieren und "Dunkelflauten" zu überbrücken, muss der Verbrauch der Erzeugung folgen ("Demand Side Response"). Dynamische Tarife sind der finanzielle Anreiz für dieses Verhalten. Wer sein E-Auto lädt, wenn der Wind weht, entlastet das Netz und spart bares Geld.

Beispielrechnung

Beispiel: E-Auto Ladung (50 kWh). Szenario A (18:00 Uhr, "Dunkelflaute"): 45 Cent/kWh = 22,50€. Szenario B (03:00 Uhr, viel Wind): 16 Cent/kWh = 8,00€. Ersparnis pro Ladung: 14,50€. Auf das Jahr (15.000 km) sind das ca. 400€ bis 600€ Differenz allein beim Auto.

Kapitel 1: Die Mechanik des Preises – EPEX Spot & Merit Order

Um zu verstehen, warum dein Strompreis schwankt, müssen wir einen Blick in den Maschinenraum des europäischen Strommarktes werfen. Das Herzstück ist die Strombörse EPEX Spot in Paris. Hier wird der Strom für Deutschland, Frankreich, Österreich und weitere Länder gehandelt.

Für dynamische Tarife ist der Day-Ahead-Markt entscheidend. Jeden Tag um 12:00 Uhr mittags findet eine Auktion statt, in der die Preise für jede einzelne Stunde des folgenden Tages festgelegt werden. Das Ergebnis dieser Auktion bestimmt, was du morgen für deinen Strom zahlst.

Das Merit-Order-Prinzip: Warum Gas den Preis bestimmt

Der Strompreis bildet sich nicht als Durchschnitt, sondern nach dem Prinzip der Grenzkosten. Alle verfügbaren Kraftwerke bieten ihren Strom an. Die günstigsten (Wind, Solar) werden zuerst genommen. Reicht deren Energie nicht aus, werden teurere Kraftwerke (Kohle, Gas) zugeschaltet.

Die Regel lautet: Das teuerste Kraftwerk, das gerade noch benötigt wird, um die Nachfrage zu decken, bestimmt den Preis für alle.

Das bedeutet für dich:
Wenn abends um 19:00 Uhr die Sonne untergegangen ist (kein PV-Strom) und alle Leute nach Hause kommen und kochen (hohe Nachfrage), müssen teure Gaskraftwerke anspringen. Der Preis explodiert.
Nachts um 03:00 Uhr, wenn der Wind weht und die Industrie schläft, bestimmen Windräder den Preis. Da Wind keine Brennstoffkosten hat, fällt der Preis oft auf nahe Null.

Kapitel 2: Die Hardware-Hürde – Ohne Daten kein Deal

Ein dynamischer Tarif erfordert, dass dein Versorger exakt weiß, wann du wie viel Strom verbraucht hast. Mit dem alten schwarzen Ferraris-Zähler (die Drehscheibe) ist das unmöglich. Er liefert nur eine Summe am Jahresende.

Deutschland hinkt beim Smart-Meter-Rollout hinterher (vgl. Schweden oder Spanien). Das Gesetz zum Neustart der Digitalisierung der Energiewende (GNDEW) soll das ändern. Hier sind deine Optionen:

1. Das Intelligente Messsystem (iMSys)

Der "echte" Smart Meter. Besteht aus einem digitalen Zähler und einem Smart Meter Gateway (SMGW). Das Gateway ist ein Hochsicherheits-Modem (BSI-zertifiziert), das die Daten verschlüsselt an den Messstellenbetreiber sendet.

  • Pflicht: Ab 6.000 kWh Jahresverbrauch oder PV-Anlagen > 7 kWp.
  • Kosten: Gedeckelt auf 20€ (Standard), 50€ (>6000 kWh) oder 100€ pro Jahr.
  • Vorteil: Wartungsarm, offizieller Standard, ermöglicht §14a EnWG Dimmung.

2. Moderne Messeinrichtung (mME) + Pulse

Der "digitale Zähler ohne Hirn". Er zeigt Daten an, sendet sie aber nicht. Hier kommen Tracker wie der Tibber Pulse ins Spiel.

  • Funktion: Ein Lesekopf wird magnetisch auf die Info-Schnittstelle des Zählers geklebt. Er liest die Lichtimpulse (SML-Protokoll) aus und sendet sie per Funk an eine Bridge, die im WLAN hängt.
  • Vorteil: Sofort verfügbar, keine Wartezeit auf den Netzbetreiber, keine monatlichen Zusatzgebühren.
  • Nachteil: "Bastellösung". Benötigt Batterien oder Strom im Zählerschrank und stabiles WLAN im Keller. Datenübertragung läuft über das Internet des Kunden.

Kapitel 3: Automatisierung – Der Schlüssel zum Sparen

Ein dynamischer Tarif ohne Automatisierung ist Sklavenarbeit. Niemand möchte jeden Tag Börsenkurse checken und dann nachts um 03:00 Uhr aufstehen, um die Spülmaschine zu starten. Das System muss "Set and Forget" sein.

Level 1: Die "dumme" Zeitsteuerung

Die meisten Geräte (Waschmaschine, Trockner, Spülmaschine) haben eine Zeitvorwahl ("Start in X Stunden"). Ein Blick in die App (z.B. Tibber) gegen 13 Uhr verrät die Preise für morgen.

  • Regel: Nachts zwischen 02:00 und 05:00 Uhr ist es fast immer am günstigsten (Wind).
  • Regel: Mittags zwischen 12:00 und 15:00 Uhr ist es im Sommer oft günstig (Solar), im Winter aber teuer.

Level 2: Integrierte Lösungen (Smart Charging)

Beim E-Auto ist der Hebel am größten. Viele Wallboxen (Go-e, Easee, Zaptec) oder die Autos selbst (Tesla, VW ID) lassen sich direkt mit dem Stromanbieter verknüpfen.
Das Prinzip: Du steckst das Auto um 18 Uhr an. Die App weiß: "Auto soll um 07:00 Uhr voll sein". Sie sucht sich automatisch die billigsten Stunden der Nacht und lädt genau dann. Das spart ohne Komfortverlust hunderte Euro.

Level 3: Home Assistant & EVCC (Der Nerd-Weg)

Wer die volle Kontrolle will, nutzt Open-Source-Software.

# Beispiel Logik in Home Assistant
if (tibber_price < 0.15) {
  switch.pool_pump.turn_on();
  climate.heat_pump.set_temp(23); // Überheizen des Estrichs
} else if (tibber_price > 0.35) {
  climate.heat_pump.set_temp(20); // Absenken in der Preisspitze
  switch.freezer.turn_off(); // Kältespeicher nutzen (max 1h)
}

Mit Tools wie EVCC (Electric Vehicle Charge Controller) kannst du PV-Überschussladen und dynamische Tarife perfekt kombinieren. EVCC lädt das Auto primär mit Sonnenstrom. Reicht der nicht, lädt es nachts Netzstrom nach – aber nur, wenn dieser unter einem eingestellten Limit liegt.

Kapitel 4: Die Anatomie des Preises (Warum 0 Cent nicht 0 Cent sind)

Ein häufiges Missverständnis: "Der Börsenpreis ist negativ, also bekomme ich Geld fürs Verbrauchen!".
Leider nein. Der Endkundenpreis setzt sich aus vielen Komponenten zusammen, von denen der eigentliche Energiepreis (Börse) nur ca. 20-40% ausmacht.

  • 1. Börsenpreis (EPEX): Variabel (z.B. -5 bis +50 ct)
  • 2. Netzentgelte: Fix (ca. 6-12 ct, regional)
  • 3. Konzessionsabgabe: Fix (ca. 1,66 ct)
  • 4. Stromsteuer: Fix (2,05 ct)
  • 5. Umlagen (KWKG, Offshore): Fix (ca. 1-2 ct)
  • 6. Mehrwertsteuer: 19% auf ALLES

Selbst wenn der Börsenpreis bei -10 Cent liegt, zahlst du aufgrund der Fixkosten (ca. 15-20 Cent) am Ende immer noch ca. 5 bis 10 Cent pro kWh. "Geld rausbekommen" ist für Endkunden faktisch unmöglich, außer der negative Preis ist extrem hoch (z.B. -50 Cent), was sehr selten vorkommt.

Tools für Profi-Optimierer

Häufige Fragen (FAQ)

Was passiert bei negativen Strompreisen?

Negative Preise an der Börse sind keine Seltenheit mehr. Sie treten auf, wenn extrem viel erneuerbare Energie (z.B. Sturm an einem Feiertag) auf geringe Nachfrage trifft. Kraftwerke zahlen dann Geld, um ihren Strom loszuwerden, statt sie teuer herunterzufahren. Bei Anbietern wie Tibber oder aWATTar wird dieser negative Preis durchgereicht. Da jedoch staatliche Abgaben, Steuern und Netzentgelte (zusammen ca. 15-20 Cent) fix sind, bekommst du selten Geld gutgeschrieben. Aber: Der Strompreis sinkt dann auf das absolute Minimum (nur die Abgaben), oft ca. 12-16 Cent brutto.

iMSys, mME, Pulse: Was brauche ich wirklich?

Ohne digitale Datenerfassung funktioniert kein dynamischer Tarif. Du hast drei Stufen: 1. Ferraris-Zähler (schwarze Scheibe): Inkompatibel. Muss getauscht werden. 2. Moderne Messeinrichtung (mME): Ein digitaler Zähler, der aber nicht 'funkt'. Hier brauchst du einen Aufsatz (z.B. Tibber Pulse), der die IR-Schnittstelle ausliest und per WLAN sendet. 3. Intelligentes Messsystem (iMSys): Der Goldstandard. Zähler + Gateway, das Daten direkt und sicher überträgt. Ab 6.000 kWh Verbrauch oder mit PV-Anlage >7kWp ist dieser Pflicht.

Gibt es eine Preisobergrenze (Cap)?

Bei echten dynamischen Tarifen (Real-Time-Pricing): Nein. Du trägst das volle Marktrisiko. Wenn Putin den Gashahn zudreht oder ein Kraftwerk ausfällt und der Börsenpreis auf 80 Cent schießt, zahlst du 80 Cent (+ Abgaben). Es gibt jedoch Tarife mit 'Preisdeckel', die dann aber im Durchschnitt teurer sind (Versicherungsprämie). Der Schutzmechanismus für den Verbraucher ist die monatliche Kündbarkeit: Steigen die Preise dauerhaft, wechselst du einfach zurück in einen Festpreistarif.

Lohnt es sich ohne E-Auto und Wärmepumpe?

Die ehrliche Antwort: Meistens kaum. Der normale Haushaltsstrom (Kochen, Licht, TV, PC) fällt oft genau in die teuren Abendstunden (17-21 Uhr), wenn die 'Merit Order' teure Gaskraftwerke in den Markt drückt. Ohne 'verschiebbare Lasten' (Shiftable Loads) wie E-Auto oder Wärmepumpe sparst du vielleicht 20€ im Jahr, hast aber den mentalen Stress ('Darf ich jetzt waschen?'). Der Hebel fehlt.

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